Sonntag, 14. März 2010

Kloster Ettal - Beitrag der FAS












Abt Barnabas: Ausgerechnet ihn hat es zuerst getroffen

Ein bemerkenswerter Beitrag der FAS beleuchtet die fragwürdige Rolle des Erzbistums München-Freisings und relativiert die Rücktritte in Ettal, nicht jedoch die dort verübten Taten.

Debatte um Missbrauchsfälle

Kollateralschäden in Kloster Ettal

Von Manfred Lütz, Rom


14. März 2010 „Kollateralschaden“ war das Unwort des Jahres 1999. Es hatte damals zur Verharmlosung der Tatsache gedient, dass die angeblich so „chirurgischen“ Schläge der Nato-Bomber im Jugoslawien-Krieg auch unschuldige Opfer außerhalb der angezielten militärischen Objekte kosteten. Wie es damals darum ging, schreckliche Verbrechen zu verhindern, so ist jetzt die schonungslose Aufklärung der entsetzlichen Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen eine gerechte Sache.

Endlich können die Opfer zu Wort kommen, endlich werden die Täter mit ihren Verbrechen konfrontiert, endlich können auch die zur Verantwortung gezogen werden, die durch Wegschauen, Vertuschen und Verharmlosen die Taten ermöglicht oder gedeckt haben. Doch auch bei dieser gerechten Sache können „Kollateralschäden“ vorkommen, die unschuldige Menschen zwar nicht physisch, aber moralisch vernichten oder doch zumindest schwer schädigen. Ein unüberprüftes Gerücht, eine unprofessionelle Recherche, ein fehlinterpretierter Text, sie können verheerende Wirkungen haben.

Zu Unrecht zum Rücktritt gedrängt

Im derzeitigen Missbrauchsskandal ist es inzwischen zu „Kollateralschäden“ gekommen. In Ettal hat es bis in die achtziger Jahre schreckliche Fälle sexuellen Missbrauchs und körperlicher Gewalt gegen Jugendliche gegeben. Das muss schonungslos aufgeklärt werden. Doch, wie schon der externe Ermittler in seinem erschütternden Bericht in der vergangenen Woche feststellte, ist seit den neunziger Jahren eine grundlegende Änderung eingetreten.

Insbesondere der seit 1997 amtierende Schulleiter Pater Maurus und der seit 2005 amtierende Abt Barnabas werden in diesem Bericht positiv hervorgehoben. Ausgerechnet die hatte es aber zuerst getroffen. Sie mussten auf Drängen des Erzbistums München und Freising von ihren Ämtern zurücktreten.


Doch mittlerweile liegen schriftliche Beweise vor, dass beide in der Aufregung der ersten Stunden zu Unrecht zum Rücktritt gedrängt wurden. Wie konnte es dazu kommen? Im Jahre 2005 hatte mich der gerade neugewählte Abt auf einen Pater angesprochen, der grenzüberschreitendes Verhalten gezeigt hatte. Abt und Schulleiter schilderten mir in aller Offenheit und geradezu mit Akribie, dass dieser Pater einen auf dem Bauch im Bett liegenden weinenden Jungen aus der 7. Klasse unter dem T-Shirt auf dem Rücken gestreichelt und massiert hatte. Das war den Jungen aus seiner Internatsgruppe unangenehm aufgefallen, sie hatten sich beim Internatsleiter beschwert, hatten auch von anderen derartigen Grenzüberschreitungen berichtet, und man hatte Pater G. daraufhin sofort von jeder pädagogischen Tätigkeit entbunden und alle Eltern der Gruppe informiert.

Es lag noch nicht einmal der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vor

Nun stellte sich die Frage, was mit dem Pater geschehen sollte. Es war zwar von keiner Seite der Verdacht auf sexuellen Missbrauch geäußert worden, doch ich riet zur letzten Sicherheit und angesichts der Brisanz bei einem katholischen Gymnasium zu einem Gutachten bei Professor Friedemann Pfäfflin in Ulm. Dieser ist einer der international renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Risikoabschätzung und wird von der Deutschen Bischofskonferenz in entsprechenden Fällen eingeschaltet.

Das Gutachten war eindeutig: Es lag noch nicht einmal der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vor, keine Pädophilie, auch sonst keine Diagnose und daher keine Notwendigkeit für eine Therapie. Pater G. habe seine Probleme mit Nähe und Distanz bereits gut reflektiert und könne in der Seelsorge, sogar langfristig in der Jugendarbeit, selbst ohne Teameinbindung eingesetzt werden. Der Pater wurde nach Wechselburg versetzt, dort vor allem in der Verwaltung und später mit anderen zusammen in der Seelsorge und der Jugendarbeit eingesetzt. Es gibt bis heute aus dieser Zeit keine einzige Klage über Fehlverhalten.

Die Ereignisse überschlugen sich

Das war der Stand, als am 23. Februar 2010 das Erzbistum München und Freising eingriff. Die Ereignisse überschlugen sich. Der Ansprechpartner der Erzdiözese für Missbrauchsopfer, Monsignore Kneißl, las in der Aufregung offensichtlich das Gutachten falsch. Plötzlich war bei Pater G. von sexuellem Missbrauch die Rede, welcher dem Erzbistum hätte gemeldet werden müssen. Außerdem habe das Gutachten eine weitere Tätigkeit in der Jugendarbeit nicht zugelassen. Und deswegen müssten der Abt und auch der Prior und Schulleiter Pater Maurus auf Drängen der Erzdiözese umgehend zurücktreten. Der Abt legte sein Amt sofort nieder. Pater Maurus trat erst nach zwei Tagen zurück, nachdem ihm, wie jetzt der Abtprimas Notker Wolf bekanntgab, andernfalls mit der Schließung der Schule gedroht worden war.

Doch am 1. März antwortete Professor Pfäfflin auf ein Schreiben des Abts, in dem dieser präzise geschildert hatte, wie er nach dem Gutachten mit Pater G. verfahren war: „Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs war damals von keiner Seite erhoben worden. Auch bei der Begutachtung durch mich fanden sich diesbezüglich keine Anhaltspunkte. Das in Ihrem Fax von gestern geschilderte Vorgehen halte ich, um Ihre Frage zu beantworten, für angemessen und in Übereinstimmung mit den Vorschlägen in meinem Gutachten.“

Damit waren die Gründe für die Rücktritte hinfällig. Denn wenn noch nicht einmal der Verdacht auf sexuellen Missbrauch vorlag, gab es auch keine Meldepflicht, mithin keine Meldepflichtverletzung. Und wenn der Abt dem Gutachten gemäß gehandelt hatte, dann gab es auch kein Fehlverhalten. Das gleiche gilt für den Prior und Schulleiter Pater Maurus. Der hatte sich auch in dem vor der Übernahme der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz durch Kloster Ettal aufgetretenen Fall von 2003 korrekt verhalten, als er einen inzwischen verstorbenen Pater wegen 25 Jahre zurückliegender Anschuldigungen aus dem Unterricht nahm. Es sind bis heute keine anschließenden Übergriffe bekanntgeworden.

Der unbedingte Willen zur Aufklärung hatte Opfer geschaffen

Es ist nicht das erste Mal, dass im Rahmen einer aufgeladenen öffentlichen Atmosphäre die Falschen getroffen werden. Berühmt ist der sogenannte Wormser Fall. Eine Großfamilie war beschuldigt worden, ihre Kinder missbraucht zu haben. Die Kinder waren schlagartig in Heime gesteckt worden. Die Ermittlungen zogen sich jahrelang hin. Und schließlich erging ein spektakuläres Urteil, das auf der Grundlage eines Glaubhaftigkeitsgutachtens von Professor Max Steller aus Berlin zum Ergebnis kam, dass es sich um - unbeabsichtigte - Suggestionen einer tendenziösen Beratungsstelle gehandelt hatte, die dann auf Zeichnungen der Kinder Diagnosen aufgebaut hatte. Mit ernsten Worten entschuldigte sich der Richter und wies darauf hin, dass hier den Kindern schwerer Schaden durch die Heimunterbringung zugefügt worden war. Niemand war in diesem Fall böswillig. Doch gerade der unbedingte Willen zur Aufklärung hatte Opfer geschaffen.

Auch in diesem Fall ist der gute Wille zur Aufklärung unbestreitbar. Der zuständige Monsignore Kneißl ist vom Leid der Opfer glaubhaft tief berührt. Doch er zieht daraus Schlüsse, die unter professionellem Aspekt zumindest problematisch sind. Im Fernsehen sagte er, dass er den Satz „Das kann ich mir bei dem gar nicht vorstellen“ aus seinem Wortschatz streichen würde. Diesen aus der Emotion geborenen Satz konsequent zu Ende gedacht, kann man eigentlich niemanden mehr heiraten. Gewiss muss man mit Opfern in einer Atmosphäre der Akzeptanz sprechen. Aber gerade Opfer, denen es ja um Gerechtigkeit geht, haben in der Regel keine Probleme, sich bei einer anstehenden rechtlichen Auseinandersetzung an einer nüchternen wissenschaftlichen Wahrheitsfindung konstruktiv zu beteiligen.

Pater G. ausweislich des Gutachtens heterosexuell

Es ist beruhigend, dass sich nach neuerdings aufgetretenen Gerüchten jetzt die Staatsanwaltschaft des Falls Pater G. angenommen hat. Wie auch der externe Ermittler andeutete, ist neuerdings von zwei Schülern behauptet worden, zwei andere Schüler seien von Pater G. unter der Unterhose an den Genitalien berührt worden. Da der Ermittler zugleich mitteilte, dass Pater G. ausweislich des Gutachtens heterosexuell sei, erscheint allein deshalb die Beschuldigung nicht wahrscheinlich. Man wird die Ergebnisse der staatsanwaltlichen Ermittlungen abwarten müssen. Schon jetzt ist klar, dass die öffentliche Vorverurteilung des kaum anonymisierten Pater G. als Sexualstraftäter ein Unrecht ist.

Im Nachhinein zeigt sich, dass wohl gerade die Gewissenhaftigkeit des Schulleiters und des Abts, die sich beide höchsten Ansehens erfreuen - der Abt ist Präses der Bayerischen Benediktinerkongregation, der Schulleiter war lange Jahre stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung der Schulen aus Ordenstradition -, ihnen zum Verhängnis geworden ist. Doch diese beiden verantwortungsbewussten Leitungsfiguren, denen Ettal seinen guten Ruf wesentlich zu verdanken hat, werden wichtig sein, um einen glaubwürdigen Neuaufbruch zu bewirken.

Welche Konsequenzen sind zu ziehen? Schon vor der jetzigen Debatte war eine intensivere Fortbildung der Ansprechpartner der Diözesen geplant. Das soll jetzt zügig organisiert werden. Die Beratungskommissionen müssen auch mit außerkirchlichem Sachverstand angereichert werden. Nicht ob ein Experte katholisch ist, darf entscheidend sein, sondern ob er persönlich geeignet und fachlich kompetent ist. Auf diesem brisanten Feld reicht nicht der gute Wille, auch die Ausführung muss gut sein.

Das begrüßenswerte Engagement des Erzbistums München und Freising hat einen aufrüttelnden Effekt erzielt. Das ist verdienstvoll. Aber es hat auch ganz unbeabsichtigt „Kollateralschäden“ produziert, aus denen man gewiss für die Zukunft lernen wird. Denn hinter dem zynischen Ausdruck Kollateralschäden verbergen sich verletzliche Menschen, deren Würde zu schützen Ziel der staatlichen und der kirchlichen Rechtsordnung ist.

Der Autor ist Psychiater und Psychotherapeut und berät die deutsche Bischofskonferenz in Fragen des Missbrauchs.



Text: F.A.S.
Bildmaterial: dpa