Mittwoch, 31. März 2010

Zwischenruf: Cardinal Lehmann zu Mißbrauch in der katholischen Kirche


Kardinal Lehmann

„Pädophilie lange Zeit unterschätzt“

31. März 2010 

Der Mainzer Kardinal Lehmann sieht die katholische Kirche nach den Enthüllungen zahlreicher Missbrauchsfälle in einer tiefgreifenden Krise. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Donnerstagsausgabe) schreibt der langjährige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, in dieser Situation ergebe es keinen Sinn, mit dem Finger zuerst auf andere zu zeigen und dadurch den Anschein zu erwecken, von der eigenen Verantwortung abzulenken oder das Geschehene zu relativieren. Die Kirche dürfe sich vielmehr nicht wundern, wenn sie jetzt an jenen Kriterien gemessen werde, mit denen sie sonst ihre sittlichen Überzeugungen vertrete. „Die aufgedeckten Missbrauchsfälle wirken wie ein Bumerang“, schreibt Lehmann. Zugleich bekundete er Erleichterung darüber, „dass nun vieles an den Tag kommt“.

Im Blick auf seine Aufgabe als Bischof von Mainz schreibt Lehmann: „Ich tappte oft lange im Dunkeln, auch wenn ich noch so sehr um Aufklärung bemüht war.“ Die Täter schwiegen eisern, „viel mehr als jeder Alkoholiker“. Viele Opfer hätten es nicht vermocht, sich jemandem anzuvertrauen. Um so mehr müsse heute die Zuwendung zu wirklichen oder möglichen Opfern im Vordergrund stehen, verlangte Lehmann.

Zugleich gestand der Kardinal ein, dass die Kirche im Einklang mit der Wissenschaft das Problem der Pädophilie und damit auch die Fähigkeit von Tätern zur Umkehr und zur Heilung lange Zeit unterschätzt habe. „Im guten Glauben haben wir uns oft auf den erklärten guten Willen verlassen. Deshalb kam es auch zu den falschen und schon seit längerer Zeit gewiss unverzeihlichen Praktiken, einen überführten und manchmal auch rechtskräftig verurteilten Täter einfach an eine andere Stelle zu versetzen.“

Manchmal „nicht mit der letzten Akribie“ aufgeklärt

Lehmann bezeichnet es als „tragisch“, dass die Lehre der Kirche zwar nie einen Zweifel daran geduldet habe, dass jede Form von sexuellem Missbrauch grundlegend verwerflich sei, „die Verantwortlichen in der Kirche im eigenen Umfeld in manchen Fällen aber doch nicht mit der letzten Akribie und Unabhängigkeit lückenlose und unbestechliche Aufklärung betrieben haben“.

Dieses Versäumnis geht nach Worten des Kardinals auf mehrere Ursachen zurück: auf die Einstellung, „sich mehr um die Täter kümmern zu müssen als um die Opfer“, auf den Versuch „durch schnelles Abwehren und Verdecken eines Verdachts oder gar einer Verfehlung die Institution Kirche, und gerade auch Amtspersonen, unter allen Umständen vor einem Makel zu bewahren“ - und hier und auch da auch auf „eine Kumpanei, wie sie in manchen 'geschlossenen Systemen' möglich ist, in die niemand von außen so recht hineinsieht“.

Indes nimmt Lehmann die deutschen Bischöfe gegen der Vorwurf in Schutz, sei seien hinsichtlich des Problems sexuellen Missbrauchs untätig geblieben. Die seit dem Jahr 2002 geltenden Leitlinien der Bischofskonferenz haben sich nach seinen Worten im Grundsatz bewährt. Zu bedenken sei aber bei einer neuerlichen Revision der Leitlinien, ob die kircheninternen Ermittlungen in neutrale Hände gelegt werden und ob die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden in jedem Einzelfall zur Pflicht gemacht wird. „In der Vergangenheit wurde dies allerdings in vielen Fällen schon praktiziert.“ Freilich nützten die besten Leitlinien nichts, wenn sie nicht strikt und ohne Ansehen von Personen und Institutionen befolgt würden.

Noch stärkerer Wachsamkeit bedarf es nach Ansicht des Kardinals bei der Auswahl der Kandidaten für das Priesteramt. Es müsse nüchtern bedacht werden, so Lehmann, „inwieweit die priesterliche Lebensform in höherem Maß pädophil veranlagte Männer anziehen kann, zumal im Blick auf ein Engagement in kirchlichen Einrichtungen“. In diesen bestehe nicht nur die Möglichkeit, vielen Kindern in einem geschützten Raum zu begegnen, sondern auch die Aussicht, durch seelsorgliche Diskretion und die gesellschaftliche Tabuisierung unentdeckt zu bleiben. „Die Verantwortlichen unserer Ausbildungsstätten haben diese Gefahr längst erkannt“, versichert Lehmann. Aber auch Gespräche mit Fachleuten und entsprechende Informationen könnten bei aller Wachsamkeit Fehlbeurteilungen im Einzelfall nicht immer ausschließen. „Zweifellos bedarf es in dieser Richtung noch größerer Vorsicht und einer klaren Entschiedenheit.“

Den Beitrag von Karl Kardinal Lehmann lesen Sie in der F.A.Z. vom Donnerstag, dem 1. April.

Text: D.D./FAZ.NET Bildmaterial: Frank Röth

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