Dienstag, 2. April 2019

Über die Zukunft der Fachliteratur – Woher wir unsere Erkenntnisse in Zukunft nehmen





In der zweitgrößten Branchenzeitung, durfte ich etwas zur Zukunft der Fachliteratur sagen. Dass sie mich dabei so groß rausbringen würden, wusste ich nicht. Das Foto ist während der Buchmesse 2018 entstanden. Der Artikel im Wortlaut meines Manuskripts.

Über die Zukunft der Fachliteratur 

Woher wir unsere Erkenntnisse in Zukunft nehmen


Prolog

»Halt! – Noch eine Frage,« – rief ich – »bevor wir weitergehen: Tun Ihre Menschen denken?« »Nein!« rief er sofort – das haben wir glücklich abgeschafft!«

In Oskar Panizzas wiederentdeckter Erzählung »Die Menschenfabrik« (erschienen bei Hoffmann und Campe, ISBN 978-3-455-00581-3) berichtet er von einem Wanderer, der nachts vor ein rätselhaftes Gebäude gelangt. Als ihm geöffnet wird, erwartet ihn ein Ort des Schreckens: Eine Menschenfabrik. Stolz werden ihm die gebauten Maschinen präsentiert, die sich nicht im Geringsten von ihren lebendigen Vorbildern unterscheiden und doch viel effizienter und besser sind…  Sein Text stammt aus dem Jahr 1890.

Ähnlich erging es mir, als ich rund 120 Jahre später eine moderne Anwaltskanzlei betrat. Papierlos und aufgeräumt, Menschen an großen Bildschirmen, die von Programmen gefertigte  Schriftsätze prüften. Eine »Schriftsatzfabrik«? – Ich erschrak. Dem Ort fehlte etwas, Individualismus, Eigenschöpferisches, eine sichtbare Quelle der Erkenntnis, etwa ein Buch...? Stehen wir vor einem Zeitalter, wo Wissen produziert und das Denken abgeschafft wird, wo wir nicht selber lesen, sondern lesen lassen?



Digitale Arbeitsformen verdrängen klassische Fachinformation

In modernen Arbeitsformen ist – so scheint es – das Buch als papiergebundene Information ein Systembruch, ein in automatisierte Arbeitsabläufe nicht mehr natürlich einzubettendes Medium. Das verändert das traditionelle Fachinformationsgeschäft. Gesetze sind heute im Nu im Netz verlässlich dokumentiert nachschlagbar, Datenbanken liefern einfach zu recherchierende Informationen schnell an den Bildschirmarbeitsplatz. Die Ausstattung heutiger Büros orientiert sich an den Bedürfnissen digitalen Arbeitens. Personalisierte Zugänge erlauben die stationäre Arbeit auf anderen Geräten nahtlos fortzusetzen. Diese Veränderungen gehen tiefer als der Medienwechsel vom Buch zum Datenträger vor 25 Jahren. Datenbanken scheinen das Buchgeschäft zunehmend abzulösen.

Für Fachbuchhandlungen und Verlage teilt sich die Zielgruppe der Kunden beziehungsweise Leser in drei Gruppen:

  • Klassische Leser
  • Hybridleser
  • Digital first


Die Gruppe der klassischen Fachleser hat eine starke Bindung an die bisher angebotenen papiergebundenen Fachinformationen und behauptet sich auch (noch) gegen die Umstellung zu den digitalen Informationswegen.
                                                                                                                                                                                                                                           
Hybridleser haben den Wandel zu modernen Arbeitsformen vollzogen, kennen aber noch die »alte Welt«. Sie suchen die digitalen Ausgaben der von Ihnen favorisierten Fachbücher aus ihrem gewohnten Universum. Sie öffnen sich aber auch schon für andere Quellen der Information, zum Beispiel »Open Access«, also der freie Zugang zu wissenschaftlicher Literatur über qualifizierte Plattformen im Internet.

Digital First ist eine neue, stärker werdende Gruppe. Sie entwickelt rein digitale Arbeitsformen mit konfektionierten EDV-Lösungen (»Legal Tech«) die juristische Prozesse gänzlich automatisiert erledigen. Klassisches Fachwissen wird in die Programme »eingespeist«. Diese Gruppe ändert den Markt vollständig weil sie bestehende Informationswege, Technologien und Beratungsangebote vollständig verändert oder gar verdrängt.

In Zahlen lässt sich diese Entwicklung im Fachbuchhandel und Verlagen ablesen:
  • Mehrfachbezüge entfallen, insbesondere bei überörtlichen Kanzleien, d.h. die gedruckten Auflagen sinken.
  • Online-Nutzung von Werken ist eine inzwischen etablierte Arbeitsweise. Sie entspricht modernen Arbeitsformen im Hinblick auf Zugänglichkeit, Recherchiermöglichkeiten und Weiterverarbeitung.
  • Wissenschaftliche Veröffentlichungen verlagern sich in zunehmendem Maße auf (anerkannte) Plattformen im Internet (»Opern Access«) oder Bibliotheken.


Bedeutet dies, dass alle wichtigen Erkenntnisquellen, mit denen Juristen in der Vergangenheit gearbeitet haben, mittel- bis langfristig überflüssig werden, weil die Fachinformationen in anderer Weise oder auf anderen Wegen bezogen und durch »Künstliche Intelligenz« verarbeitet werden?


Macht künstliche Intelligenz unsere Erkenntnisquellen überflüssig?

Soweit eine Sozialisierung in bisherigen Arbeitsumgebungen stattgefunden hat, können Verlagen noch darauf setzen, dass ihre Standardwerke bei der Gruppe der klassischen Leser- und Hybridleser weiter nachgefragt werden, im wachsenden Maße in der digitalen Ausgabe. Die Bücher sind hier noch die Werkzeuge, ohne die die Arbeit nicht vorstellbar ist. Auch wer seine Arbeitsweise auf digitales Arbeiten umstellt, tut dies in der Vorstellung, seine bisherige Welt in die neue mitzunehmen.

Was aber, wenn eine Gruppe wie die der »Digital First« diese Erkenntnisquellen der Vergangenheit nicht mehr nutzt, Neuerungen in anderer Form aufnimmt und in die von ihnen genutzten Programme einspeist? Könnte es sein, dass Programme wie IBM Watson Texte nicht nur verstehen, sondern »intelligent« verfassen kann, die bislang noch von menschlichen Autoren erstellt worden sind? Die Antwort auf beide Fragen hängt damit zusammen, welche Fähigkeiten wir der »Künstlichen Intelligenz« zutrauen und was sie zu leisten imstande ist.

Das Recht ist dynamisch und spiegelt die ständigen, unvorhersehbaren Wandlungen unserer Gesellschaft wider.

Algorithmen, die allen Programmierungen der »Künstlichen Intelligenz« zugrunde liegen, stellen hingegen bekannte Handlungsmuster nach und übertragen diese auf vergleichbare Fälle. Sie ist nach derzeitigem wissenschaftlichem Stand nicht in der Lage, schöpferisch zu sein.

Fachinformation berührt noch unbekannte Sphären, bereitet den Weg für neue Problemlösungen, setzt sich mit widerstreitenden Standpunkten auseinander. Klassische Fachinformation bewegt sich da, wo es noch keine Handlungsmuster gibt. Sie lotet aus, trifft Annahmen, gestaltet.

Es erscheint heute auch Experten auf dem Gebiet der »Künstlichen Intelligenz« nicht vorstellbar, dass die Auseinandersetzung und Diskussion von Meinungen durch Programme erfolgt und der beobachtende Jurist diesem Schauspiel lediglich kontrollierend oder behutsam eingreifend beiwohnt. Der Mensch wird seine aktive Rolle weiter behalten. Fachinformationen werden dort, wo Handlungsmuster fehlen und Neues erdacht werden muss, weiterhin unersetzlich bleiben.



Fachinformation der Zukunft und wie sie aussehen könnte?

»Künstliche Intelligenz « endet also da, wo der Mensch kreiert, mit Empathie handelnd die Geschicke gestaltet und kein vorgefertigtes Programm »abspult «, kurz, wo der Mensch denkt, d.h. aus einer inneren Beschäftigung mit Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffen eine Erkenntnis zu formen versucht. Abgeschlossene Darstellungen in Handbüchern zu einem Themenkomplex, werden wie bislang beitragen, einen systematischen Zugang zu einem Themenkomplex zu gewinnen und Problemlösungen zu bearbeiten (Kreativitätatalysator).

Klassische Kommentarwerke werden weiterhin kulturell gewachsene Werkzeuge zum Verständnis und Zugang rechtlicher Regelungen sein. Wissenschaftliche Abhandlungen werden sich mit Neuem auseinandersetzen und neue Sichtweisen fördern.

Eine große Bedeutung wird für Verlage die technische Aufbereitung behalten. Die Ansprüche an sie verändern sich laufend, um zeitgemäß das Einspeisen in technische Systeme (z.B. Legal Tech-Lösungen, Sprachausgabe etc.) und die Bedienung aller denkbaren Kanäle auch der Zukunft zu ermöglichen. Dies wird das Spektrum der Angebotsformen immens erweitern. Es stellt eine große Herausforderung sowohl für Verlage als auch den Fachbuchhandel dar:
  • Verlage müssen Programm- und Darstellungskonzeption auf verschiedene Nutzungen hin konzipieren. An die Benutzerführung eines Formularbuchs, dessen Dokumente in Kanzleisoftware weiterverarbeitet werden, stellen sich andere Ansprüche als bei einer rein dekriptiven Darstellung, die sie für eine mögliche Sprachausgabe eignet.
  • Fachbuchhändlern muss es gelingen, über den klassischen Produktverkauf hinaus, Dienstleistungen anzubieten, die es ihren Kunden ermöglicht, die Informationsbedürfnisse, die aus verschiedensten Quellen gestellt werden können, kundenfreundlich zu bündeln und sich für diesen Service bezahlen zu lassen.


Der Wanderer bei Panizza, der in Abgründe zu schauen schien, verließ die »Menschenfabrik« mit einer beruhigenden Erkenntnis, die hier nicht vorweggenommen werden soll. Nach meinem Besuch in der »Schriftsatzfabrik« und aus den anschließenden Gesprächen mit der Gruppe der »Digital First« konnte ich folgenden, tröstlichen Schluss ziehen:

Am Ende wird der moderne Anwalt oder Berater in der Praxis in einem anspruchsvollen Sachverhalt mit dem Mandanten keine Lösung in der digitalen Schublade finden. Vielmehr wird er die spezifischen Bedürfnisse seines Mandanten erkennen müssen und selbst eine maßgeschneiderte Lösung erarbeiten. In Verhandlungen vor Gericht oder mit der gegnerischen Partei wird er seine menschlichen Stärken zu Geltung bringen. Zur Erarbeitung der Lösung werden Impulse außerhalb des Systems, u.A. Fachinformationen beitragen und ihn zu einer Erkenntnis außerhalb von Algorithmen gewonnenen Lösungen führen.  Das macht den Menschen der »Künstlichen Intelligenz« überlegen. Er kann seinen Bedenken nicht abschaffen um etwas zu verändern, muss er selbst formulieren.

Ohne Quellen der Erkenntnis geht es für den selbstbestimmten Menschen nicht. Wege, Stil und Darbietungsform werden sich jedoch an die Gegebenheiten der Zeit dramatisch anpassen. Verlage werden sich auf die Inhalte konzentrieren müssen, die künstlicher Intelligenz nicht zugänglich ist, der Handel wird seinen Kunden im besten Sinne die vielfältigen Wege dorthin in optimaler Weise zeigen, verkaufen und verwalten.

Der Rechtsanwalt  M5rkus J. S5uerwald, geboren 1963, ist seit 25 Jahren im juristischen Publishing engagiert, zunächst beim Carl Heym5nns Verlag, später bei Wolters Kluwer Deutschland und seit 2007 als Verlagsleiter beim Kölner RWS Verl5g Kommunik5tionsforum. Dort verantwortet er alle digitalen und gedruckten Produkte des Verlages.