Bücher von gewaltigen Exkursionen und Unternehmen haben mich immer fasziniert, ob Zweigs Sternstunden der Menschheit oder Wolfgang Büschers Schilderung einer Wanderung von Berlin nach Moskau, es lässt mich einfach nicht los, selbst an zumindest kleinere Unternehmungen zu denken, die aus dem Rahmen fallen.
Im Vorjahr war es eine doppelte Eifelquerung von Bonn nach Trier und zurück. Auf meinem Telefon bewahre ich einige erprobte Routen auf, um sie irgendwann zu realisieren. Aber wann ist irgendwann?
Manchmal ist irgendwann sofort, denn wenn man manches länger plante, verlöre man womöglich doch den Mut.
Am Donnerstag wusste ich jedenfalls noch nicht, wohin mich der Weg an einem freien Wochenende führen würde, als sich in unserem Pendler-Streckenfunk ein Radler meldete, dass er vorhabe gen Norden zu fahren. Das passte gut, denn eine ausgearbeitete Strecke Köln-Norddeich Mole hatte ich in meiner Routensammlung. Es folgte ein kurzer Austausch, tatsächlich kannten wir uns nicht besonders, sondern waren nur verschiedentlich ein Stück nach der Arbeit miteinander gefahren. Aber sein Leistungsvermögen liess sich auf seinem digitalen Sportlerprofil nachlesen und außerdem kannte ich seine Radausstattung.
Ja, die Route nach Norddeich kenne er vom Papier, aber er habe sie einmal optimiert und sie noch an allen 24-Stunden-Tankstellen vorbeigeführt, denn nach Nordhorn käme außer Moor nichts mehr.
Und wenn wir vorher scheitern oder uns die Kräfte ausgingen...?
Kein Problem, er habe eine Liste mit allen Zugverbindungen...
Ok, sagte ich, und schickte ihm die Wetter-, Wind- und Temperaturkarte für die aus meiner Sicht illusorische Route. Weit und breit kein Regen, stabiles Wetter, selbst nachts nicht kalt, Michelauslönnebergasommer.
Wir verabredeten uns für Samstag, 8.00 Uhr in Rondorf beim Bäcker. Seine Packliste schickte er mir gleich hinterher. Ich wurde stutzig, meinte er vielleicht doch nicht Norddeich Mole, sondern das Nordkap? Danach hatte er für viele Eventualitäten vorgesorgt, ich glaube jedenfalls für extreme Temperatur- und Wetterumschwänge wäre er gerüstet gewesen, auch kriegsähnliche Versorgungsengpässe hätten ihm in den geplanten 25 Stunden keine Pein bereitet, es musste dich was ganz anderes sein, oder?
Meine Planung? Ich liess mich nicht beirren, zwei Taschen mussten reichen, dazu noch am Oberrohr etwas für die unmittelbare Nahrungsversorgung und zwei Trinkflaschen, die ich mir an den Friedhöfen wieder auffüllen wollte. Werkzeug, Ersatzschlauch, Bein- und Armlinge, eine Weste, Erstehilfepäckchen und gegen die Langeweile im Mund meine geliebten Nimmzweigummifrüchtchen, ein paar Haferriegel, Kokoshappen und für die eventuell notwendige Nachtfahrt im Zug salzige Nüsschen, die ich mir mit Bahnhofsbüchsenbier zum Feierabend gegönnt hätte, falls der Trip schon deutlich vor der Wasserkante enden würde.
Pünktlich um 7.45 saß ich in Rondorf beim Bäcker Schmitz & Nittenwilm, einen großen Kaffee, zwei Rosinenweckchen. Die 27 Auftaktkilometer von Bonn bis hierher waren natürlich nicht in der Gesamtrechnung der im Bestfall möglichen weiteren 417 Kilometer enthalten.
Mir blieb der Schluck Kaffee fast im Halse stecken, als mein Mitfahrer pünktlich einrollte. Nicht nur waren seine Radtaschen größer als die meinen, auf dem Rücken trug er einen voluminösen Rucksack und eigentlich hielt ich die Unternehmung wegen unabsichtlicher unterschiedlicher Vorstellungen für gescheitert. So wie er ausgestattet war, hatte ich in einer Netzdoku einen verrückten Römer erlebt, der letzten Winter alleine mit dem Rennrad die Wüste Gobi durchquert hatte und sich verständlicherweise auf alles einstellen musste.
Kurzer Gruß, immerhin waren wir ja eine Art Schicksalgemeinschaft und meine unauffällige Frage, ob es jetzt zur Nordsee gehen würde, und wenn ja, nach Norddeich Mole. Noch immer spukte die Möglichkeit einer ganz anderen Tour durch meinen Kopf.
Ja, natürlich, wieso? In seinem Rucksack befände sich seine Trinkblase. Also, ich muss schon sagen, in Fussballstadien hat man sich an die mobilen Bierverkäufer gewöhnt, die quasi ein Fässchen auf dem Rücken tragen und dann mit Druckluft die Zuschauer mit Gerstensaft betanken. An seinem Fahrrad befanden sich zudem noch zwei Trinkflaschen, die meine an Größe ebenfalls übertrafen.
Wir fuhren los, nach Rodenkirchen, wo er mir die Wohnstätten verschiedener Prominente wies, am Rheinufer entlang, kurzer Gruß zum Dom bis nach der Mühlheimer Brücke ein schöner baumbestandener Uferweg uns an den Fordwerken vorbei nach Merkenich führte.
Kurz darauf überquerten wir die Leverkusener Brücke, mogelten uns auf Radwegen durch Leverkusen, passierten Stadion und Autobahnkreuz und erreichten den Opladener Bahnhof. Hier zweigte bis in die 1990er ein Bahntrasse durch das Bergische Land, die nun fein asphaltiert ein Radlereldorado ist und viele Höhenmeter in angenehmer Steigung überwindet und uns über Burscheid, Bergisch Neukirchen, Wermelskirchen größtenteils beschattet bis nach Lennep führte.
Ab dort wurde es ein wenig schöner Ritt durch Industrielandschaften, eingebettet in eine anspruchsvolle Topographie. Wir näherte uns Wuppertal, sausten ein Talstraße hinab Richtung Wupper als der Schaltzug meines Mitfahrer im wahrsten Sinne des Wortes „über die Wupper ging“.
Vor 40 Jahren hätte man kurz mit den Achseln gezuckt, einen Ersatzzug aus der Tasche gezaubert, durch die Hülle gezogen und am Schaltwerk wieder festgeschraubt.
Heutige Räder sind feinmechanische Wunderwerke, die Züge im Rahmeninnern verlegt, da kann man gut 2-3 Stunden seiner Lebenszeit abbuchen. Da standen wir in Wuppertal-Hammesberg, halb 12 Uhr am Samstag, konnten nach der Googlesuche aus verschiedenen Radgeschäften auswählen, die nur zum Teil am Weg lagen, aber die meisten Schrauber winkten müde ab. Die Cycle Corner erbarmte sich, also dorthin gefahren, der Kollege schiebend, Kopfschütteln auch dort, in der uns immerhin rund 50 solarbetriebene Glückskatzen, Totenköpfe oder Sonnenblumen begrüßten.
Der Schrauber riet zur pragmatischen Lösung, einfach per Schraube das Schaltwerk auf ein passendes Ritzel hinten einstellen und dann mit einem (sprich „1“ !!!!) Gang zu Ende fahren. 🙄
Naja, dachte ich insgeheim, mein Jobticket geht knapp bis Wuppertal, da muss ich nur noch das Radticket buchen, aus und vorbei, Sitze abends gemütlich daheim, die Vorstellung mit nur einem Gang restlichen 350 km anzugehen, war so, als würde man mit einem Knabenrad von früher eine Weltumrundung starten .
Mein Mitfahrer liess sich nicht beirren, wir stellten die Gangschaltung ein, leider war dies immer noch ein recht hoher Gang und erarbeiteten mögliche Ausstiegspunkte. Wuppertal, also gleich in 1.000 Metern oder Dortmund, wenn er überhaupt noch aus dem überhitzten Talkessel in Wuppertal rausfinden würde.
Die Aktion seit der Panne hatte schon eine Stunde in Anspruch genommen und schon deswegen stellte sich die Frage, ob ein von ihm ausgetüftelte Fahrplan noch genug Puffer beinhaltete.
Mein Mitfahrer zog umständlich ein großes Papier aus der Trikottasche, es war in einer Plastikzipbag vor Schweißnässe geschützt. Es war eine Exceltabelle, auf der feinsäuberlich, wie in einer Tour de France-Marschtabelle für alle Orte Durchgangszeiten angegeben waren. Die Botschaft war eindeutig, wie waren drüber, doch erstaunlich wenig, vielleicht 15 Minuten. Ein letztes Mal winkten uns Glückskatzen, Totenköpfe und Sonnenblumen zu. Glück brauchten wir, Nach meiner Einschätzung man sogar 50 sinkende Katzen zu wenig. Dann verließen wir die Cycle Corner.
Nach Wuppertal zur S-Bahn ging es bergab, das hätte mein Mitfahrer auch ohne Kette geschafft, den nächsten Berg fuhr ich hoch, auf halber Strecke stieg mein Mitfahrer ab, wir trafen uns oben bei IKEA-Wuppertal. Am liebsten hätte ich jetzt beim All-you-can-eat-Hot-Dog-Essen an der IKEA-Kasse mitgemacht, aber wahrscheinlich ist das coronabedingt auch schon gestrichen.
Ein Blick aufs Höhenprofil zeigte jedoch, da kommt nicht mehr so viel. Tatsächlich folgte ein langer Steckenabschnitt bis Witten, der wie gemacht schien für den seinen verbliebenen Gang und einen flow hervorrief, der einen glauben lässt, dass sich auch das Nordkap mit einem Bonanzarad erreichen lasse.
In Witten mussten wir zu McDonalds, weil es dort langstreckenfahrertaugliche Zimtschnecken gäbe. Ich besann mich auf Cheeseburger und Cola, wäre aber lieber in eine Bäckerei gegangen.
Friedlich ging es weiter, selbst in Dortmund kamen wir gut durch die Stadt und danach wurde die Strecke zur Offenbarung. Hinter Waltrop querten wir die Lippe, ich bestand auf ein Foto, mahnend wurde ich darauf hingewiesen, dass wir 15 Minuten plus hätten.
Wir querten den Datteln-Ems-Kanal und erreichten um 16.45 Seppenrade. Der Ort stand nicht nur wunderschön am Berg, sondern hatte eine der wenigen bemerkenswerten Steigungen im Münsterland, was mir Gelegenheit bot, am Kriegerdenkmal vor der stattlichen St. Dionysius-Kirche an meinen Literturfreund Ste7an zu denken, der diesem Dorf entstammt und dem ich ein Erinnerungsfoto schickte. Mein Mitfahrer schob, ein letztes Mal tapfer sein 1-Gang-Rennrad bergan.
Es war ein Kinderbilderbuchsommertag im Münsterland, kreuz und quer über Wirtschaftswege ging es an Höfen, Eichenalleen und einem Biergarten unter einer dreihundertjährigen Eiche in Darup in die Baumberge, die so schön aussehen, wie der Name klingt.
Die Doppeltürme des Ludgerus-Doms in Billerbeck von weitem zu sehen, war die Fahrt ein Traum. Insgeheim hoffte ich, dass wir uns in der Marschtabelle ein gutes Stück verbessert haben würden. Ich selbst wünschte, dass dieser Moment nicht aufhören möge und statt nach rechts nach Münster abzubiegen, einfach weiterfahren mögen. Ja, ich hoffte, dass es in diesen Breitengraden schon soweit sein würde, dass die Sonne garnicht mehr untergehe.
Wir erreichten Nordhorn, etwa 30 Minuten vor der in der Exceltabelle ausgewiesenen Zeit, ein trauriger Nachtzug hätte uns jetzt nach Münster und dann in den frühen Morgenstunden nach Köln befördert. Aber, wo ich jetzt schlecht schlafen würde, war nun auch egal, dann lieber in der Pippilangstrumpflandschaft.
In Nordhorn aß ich die schlechteste Teigtasche zur Sicherheit nicht zu Ende und neutralisierte sie mit Malzbier. Als wir am Ortsausgang von Nordhorn an der letzten Kreuzung, an der eine 24-Stunden-Araltankstelle, ein Burgerking und ein McDonalds neben der Ampelanlage aufleuchtete, bedeutete mír mein Mitfahrer unheilsschwer, dass wir kein Licht mehr sehen würden..., 130 Kilometer, das sei Fakt.
Nun gut, solange es noch etwas in der Restdämmerung zu sehen gab, bestand ich auf eine Ruhepause im Heu. Ich nickte sofort weg, stellte mir aber sicherheitshalber den Wecker. Statt Kaffee trank ich Apfelschorle nach dem Aufwachen, schaltete meine Suchschweinwerfer an und auf besten Radwegen, getrennt von der Straße, ging es durch die Dunkelheit, ab und zu blickte ich in blitzende Fuchsaugen. Inzwischen hatte ich mir meine reflektierende Jacke angezogen, aber nichts reflektierte, kein Autoscheinwerfer, garnichts.
In Leer fühlte ich mich genauso, wir querten die Ems und der Morgennebel legte sich feucht auf alles.
Mein guter Hirt an der Seite, der sein verbliebenes Ritzel noch nicht rundgefahren hatte und tapfer weiterpedaliert hatte, bereite mich auf die 24-Stunden-Aralstation vor, die wie aus dem Nichts auftauchte. Am Nachtschalter wurde der Kaffeebecher durchgereicht, ich setzte mich auf einen Stapel Grillkohle und kam zu mir.
Fortan schrumpfte die Entfernung und wuchs das Zeitkonto. Die erste Bäckerei am Wegrand die Leben zeigte, wurde aufgesucht, ein wenig skeptisch, denn unser Zeitvorsprung könne schnell verspielt werden. Kaffee, weitere Rosinenweckchen, weiter. Emden, keine Schönheit auf den ersten Blick und dann immer geradeaus.
Dann brach die Sonne durch an der Deichstraße. Mystik pur. Jetzt sah es wirklich so aus, wie auf dem Weg zum Nordkap. Mein Tacho zeigte 440 Kilometer, nur noch 8, da schon der Deich, schließlich die Mole, bunter Hinweise auf Fähren nach Juist und Norderney, Erinnerungsfoto am Hafenbecken, Kaffee an einer Durchreiche im Fährhaus, Warten auf den Intercity nach Köln.
Geschafft, 24 Stunden genau nach dem Start in Köln, 25 Stunden nach dem Aufbruch in Ippendorf.
Natürlich lagen wir uns nicht in den Armen, aber wir strahlten uns glücklich an. Ich war beeindruckt, dass mein Mitfahrer 350 Kilometer auf einem Ritzel gefahren war, dankbar, dass er die Route so klug ausgearbeitet hatte, eine Marschtabelle erstellt und sicher, dass eine solche Unternehmung allein ein psychische und körperliche Tortur gewesen wäre.
Im Zug. Die Fahrräder eingehängt, versank ich im Sessel, dann gemeinsame Rekapitulation. Alles noch mal im Zeitraffer nacherlebt, Fotos geschickt, die Lieben verständigt.
Erinnert man sich an soetwas in seinem Leben? Bestimmt! Norddeich Mole ist kein Ort mehr für mich, es ist ein Zustand, ein Gefühl.
So sieht das Gefühl aus: Müde. 🥱
Worin lag der Reiz? Es gemacht zu haben, von Planung kann ja keine Rede sein. Im Wissen um die Anstrengung hätte ich es wohl eher auf einen anderen Tag, der niemals kommt, verschoben.
Die Geschwindigkeit hingegen entspricht mir. Radeln ist schnell genug, die Veränderungen wahrzunehmen und weiterzukommen. Es erschließt Wege, die mit anderen Verkehrsmitteln nicht zu machen sind.
So unterschiedliche Teile Deutschlands erlebt zu haben in kurzer Zeit ist wunderbar und doch eine Überforderung angesichts der vielfältigen Eindrücke.
Vom Rhein zur Nordsee, mein Sommermärchen oder wie ich mit dem Bonanzarad zum Nordkap fuhr…