Meine erste Wallfahrt unternahm ich als Kind. Sie war nicht als solche deklariert. Meine Eltern fuhren mit uns nach Neviges. Dort hatte ein bekannter Architekt aus Beton eine Kirche gebaut. Als ich sie dann sah, erinnerte sie mich gleich an das Bensberger Rathaus, das er auch gebaut hatte. Der Stil des Architekten war mir sympathisch, spielerisch, wie der Fantasie eines Legosteinbauers mit unbegrenztem Klötzchenvorrat entsprungen. Ich erinnere mich noch an den aufregenden Innenraum. Warum die Betonkathedrale erbaut wurde, erschloss sich mir nicht weiter. Man sah ein kleines Gnadenbild in einer Seitenkapelle mit vielen Blumen und einigen Betern. Aber dennoch, der Anfang für spätere Bittfahrten war gemacht.
Als für den diesjährigen Sommer für unsere Liebste eine weitere Operation in Essen anstand, für die wir uns ein guten Ausgang wünschten, schaute ich mir einmal den Weg von Bonn nach Essen genauer an. Die direkte Linie führte über Neviges. Ich beschloss, dort Gott zu danken.
Die Operation fand dann aber nicht im Sommer, sondern im Dezember statt, den ersten und einzigen Besuch nach der Operation in der dann zum Glück kurzen Krankenhausaufenthaltszeit mache ich mit dem Auto.
Aber nun, kurz nach dem glücklichen Ausgang, möchte ich diesen Weg nachholen.
Statt nach Essen mit Halt in Neviges fahre ich nach Neviges und von dort auf anderen Wegen wieder zurück nach Bonn.
Passend schon das Schiffsorakel am Morgen: Santa Maria.
Meine Fahrt beschert mir gleich ein Geschenk. Zum traditionellen Freitagsfrühstück bei den Eltern bringe ich vom Wochenmarkt am Hermeskeiler Platz einen Weihnachtsstern mit. Ich habe diesen gerade unter meine Weste verstaut, als mir ein Wochenmarktmarketingteam einen Einkaufsbeutel (Taschen aus Flaschen) in die Hand drückt, der genau einen Weihnachtsstern dieser Sorte enthält.
Bei den Eltern stärke ich mich für die Weiterfahrt bei einem entspannten Frühstück. Ich quere die Stadt überwinde den Rhein über die Deutzer Brücke und folge dem Auenweg rechtsrheinisch stromabwärts, vorbei an der Seilbahn, auch ein unverändert erscheinender Kindheitsort.
Nun setzt sich der Nebel auf alles, vieles von der Landschaft lässt sich nicht mehr erblicken, vorbei am Chempark von Bayer, Durchquerung von Leverkusen mitten durch die ansehnlichen Werkssiedlungen. In der Klingenstadt Solingen scheint sich noch immer alles um Messer, Scheren und Klingen zu drehen. Auf und ab, hinab zur Wupper und schließlich nach Vohwinkel, einem Ausläufer des San Francisco des Westens, Wuppertal. Straßenzüge mit Steigungen wie ich sie zuletzt in Kalifornien erlebte. Statt cable car schwebt sein wahrlich revolutionäres Verkehrsmittel über meinem Kopf – die Schwebebahn.
Danach beruhigt sich die Landschaft. Nach Aprath auf Nebenwegen an Höfen, Oberdüssel vorbei, Richtung Neviges.
Diese Wallfahrt gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den populärsten Pilgerfahrten und veranlasste die Franziskaner eine neue, große Wallfahrtskirche anzuregen. Den Zuschlag erhielt ex cathedra Gottfried Böhm vom fast blinden Kardinal Frings durch Ertasten des Modells.
Auch wenige Meter vor dem Architekturmeisterwerk weisen keinerlei Hinweisschilder auf dieses Juwel. Es wird erst im letzten Moment nach einem Kurvenschwung sichtbar. Ich erreiche den Prozessionsweg zur Kathedrale. Ich betrete den mystischen Raum in einem noch grauer geworden Tag. Kreuz, Rosenfenster und in der Seitenkapelle das Gnadenbild in einer schönen, organischen Steele eingelassen.
Eine einsame Beterin und ich. Ich bedanke mich, zünde Kerzen an und lasse mich von der Mystik des Raums einnehmen.
Danke.
Neviges wirkt ausgestorben. Kein Restaurant, kein Imbiss, der zum Verweilen einlädt. Auf bekannten Weg zurück nach Vohwinkel, an der Schwebebahn zu »Mona Lisa«, einer Döneria. Ich setze mich zum Essen rein, der Wirt erklärt Corona für eine Erfindung der Politiker, macht aber seinen Bruzzeljob einwandfrei und akzeptiert meine gegenteilige Meinung.
In Solingen verlasse ich die bisherige Route. Dämmerung setzt ein, dann Dunkelheit. Dafür sind die Vorgärten illuminiert.
Ich sause hinab ins Tal der Wupper, klettere auf der anderen Seite wieder nach oben. Nun auf der Höhe blicke ich hinab Richtung Rhein, sehe das erleuchtete Bayerkreuz und bei Rückenwind gleite ich durch die Düsternis. In Schlebusch erreiche ich fast heimatlich anmutende Gefilde, durch lange, gut asphaltierte Radtrassen bald Dünnwald, Dellbrück, Brück und Rath, die ersten Flieger leuchten am Himmel weisen auf dem Flughafen Köln/Bonn, von Spich im Zickzack Richtung Kriegsdorf, ich überquere die Sieg und erreiche Schwarzrheindorf.
Ein bewohntes Wegkreuz, eine Kerze brennt, die Doppelkirche leuchtet und schließlich ins quirlige Beuel. Ich quere den Rhein, der Posttower funkelt weihnachtlich. Hinein ins Gewühl der Stadt. Von St. Sebastian in Poppelsdorf läuten die Glocken 8:00 Uhr abends. Schuhe und Kleidung zwar verdreckt, doch tiefer Dank, der in mir aufsteigt.
Kein Vergleich zu dem, was unsere Liebste erlebt hat und wofür wir immer wieder danke sagen werden.