Samstag, 6. Juni 2009

In der Archivalien-Intensivstation

Es war halb 7 Uhr früh an einem trüben Samstagmorgen als ich zur ersten Tagesschicht die Rückseite der Lagerhalle eines großen Möbelhauses bei Köln betrat. Schutzanzüge, Atemschutzmasken und Einweghandschuhe wurden ausgegeben, eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Nach kurzer Einweisung durch einen erfahrene Kraft, die sich Ort und Umstände seiner Archivtätigkeit so nie vorgestellt hatte, begann die Operation "Reinigung geborgener Archivalien".

Die Stadt Köln hatte kurz nach dem Beginn der Bergung der Dokumente des Kölner Stadtarchivs für die Erstversorgung freiwillige Helfer gesucht, die die Fundstücke unter Aufsicht der Mitarbeiter vom groben Schmutz befreien und katalogisieren und vorsortieren sollen. Hatte man zunächst Studenten passender Fakultäten angesprochen, weitete sich der Kreis der Interessenten schnell auf andere interessierte Bürger aus.

An sechs Tagen wird seitdem gearbeitet, von Montag bis Samstag in zwei Schichten verteilt auf die Zeit von 7 - 21 Uhr.

Die von der Feuerwehr und THW geborgenen Stücke werden dabei in handlichen Kisten angeliefert und auf verschiedenen Hallen zur Erstsichtung durch die freiwilligen Helfer verteilt. Diese entscheiden, ob Akten und Papiere Wasser- oder Schimmelschäden aufweisen oder weitgehend unversehrt lediglich gereinigt und vorsortiert werden müssen.

Sondertische gibt es für ausgebildete Restauratoren, die sich schwierigeren Fällen annehmen und sichern.

Ich suchte mir einen Platz an einem der wenigen Fenster, öffnete eine Kiste nachdem Handbürste, Stift und Papier bereit lagen, der Schutzanzug fest geschlossen und die obligatorische Atemschutzmaske angelegt war. Das Atmen war ungewohnt, Sprechen ohnehin nur mit einem gewissen Aufwand möglich und so lag trotz der ca. 30Personen eine kontemplative Stille über Allem. Jeder sein eigener Chirurg mit dem was die Wucht des Zusammenbruchs übrig gelassen hatte. Schon der Inhalt der Kisten zeigte das gesamte Spektrum der möglichen Zustände und Herkunftszeiten der Papiere. Von der mittelalterlichen Urkunde bis zu Ratsprotokollen der 1980er Jahre reichte die Zeitspanne. Nahezu unversehrte Leitz-Ordner, aber auch Archiv-Konfetti fanden sich. Die Vorsortierung auf den großen Tischen war spannend. Dann wurden Sand, Kies und Gesteinsstücke mit kleinen Handbesen entfernt. Immer wieder richtete sich der Blick auch auf die Texte, um einen katalogisierbaren Anhaltspunkt zu finden. Die so durchgesehenen Schriftstücke wanderten, so weit lose sorgfältig eingewickelt, in Spezialbinden in größere Plastikwannen, wo sie dann von Fachkräften in Bälde weiter bearbeitet werden sollen.

Die Zeit verging im Fluge, so wie die Jahrhunderte Kulturgeschichte behutsam durch die Finger glitten und Schicht für Schicht wieder ans Tageslicht zurückgelangten.

Unter den Helfern waren Jung und Alt, Kölner und Angereiste, auch viele ausländische Mitbürger. Einige arbeiten zum ersten Mal nach langer Arbeitslosigkeit mit anrührendem Ernst und Ehrfurcht.

In der Frühstückspause hatte jeder etwas zu erzählen, von seinen Schätzen, zusammengesetzten Puzzlesteinchen und der Motivation seines Kommens.

Irgendwo in der Halle hatte jemand mit Klebeband ein Bild des untergegangenen Archivs an die Wand geheftet, als ständige Erinnerung. Gegen 13 Uhr leerte sich der OP. Die Reisverschlüsse gingen auf, die zweite Haut wurde abgestreift, die Frühschicht trat ins Freie und ein Frühlingslandregen rann durch die staubbedeckte Gesichter. Feierabend!

Bis Mitte Juli werden die freiwilligen Retter in Weiß die Arbeit der Erstversorgung abgeschlossen haben. Dann beginnt die jahrzehntelange Arbeit des Wiederherstellens und Neuordnung. Und sicher wird diese Arbeit von den freiwilligen Helfern begleitet werden, auch wenn die Genesung dieses Patienten Jahrzehnte brauchen wird.

Wer helfen möchte kommt hier zur Anmeldung!

Hier eine Dokumentation des WDR

Von Antraud Cordes-Strehle, wdr

Video: Ehrenamtliche Arbeiter helfen bei Bergung des Kölner Stadtarchiv, tagesschau 17:00 Uhr [Antraud Cordes-Strehle, WDR]











Zum Zustand der Archivalien äußerte sich die Leiterin gegenüber dpa:

BILANZ NACH EINSTURZ
Helfer können fast alle Dokumente aus Kölner Stadtarchiv retten



Die Leiterin des eingestürzten Kölner Stadtarchivs spricht von einer Sensation: Monatelang haben Helfer im Bauschutt gebuddelt, um die wertvollen Dokumente zu bergen - mit Erfolg. Fast alle historischen Fotos und Urkunden sind erhalten geblieben.

Köln - Beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs vor drei Monaten ist so gut wie nichts verlorengegangen. "Es ist sensationell, dass alles noch irgendwie da ist", sagte die Leiterin des Archivs, Bettina Schmidt-Czaia, der Deutschen Presse-Agentur dpa. Der Zustand des Materials sei zwar sehr unterschiedlich, aber nur weniger als ein Viertel sei zerschnipselt, und auch hier bestehe Hoffnung: So wie einst die zerschredderten Stasi-Akten sollen auch die Archiv-Schnipsel wieder zusammengesetzt werden, und zwar mit Hilfe einer eigens dafür entwickelten Software. Die Restaurierung des gesamten Materials kann allerdings 30 Jahre dauern - oder länger.


85 Prozent des Gesamtbestandes sind mittlerweile geborgen. Die restlichen 15 Prozent liegen in einer Baugrube der U-Bahn im Grundwasser. Die Feuerwehr prüft zurzeit, wie dieses Material am Besten hochgeholt werden kann. "Wir werden das nicht aufgeben", sagte Schmidt-Czaia. "Wir brauchen alles, wir fordern alles." Im Übrigen benötige das Archiv vor allem eines: "Geld, Geld, Geld." Es gehe um "einen hohen dreistelligen Millionenbetrag". Der Bund, das Land und die Stadt seien in der Pflicht, vielleicht könne man auch bei der EU Mittel loseisen.

MEHR ÜBER...
Kölner Stadtarchiv Fritz Schramma
zu SPIEGEL WISSEN
Beim Einsturz des Stadtarchivs und zweier benachbarter Gebäude waren am 3. März zwei Männer im Alter von 17 und 24 Jahren ums Leben gekommen. Kölns Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) verzichtete daraufhin auf eine erneute Kandidatur für das Bürgermeisteramt. Ein Wassereinbruch in die U-Bahnbaustelle am Stadtarchiv gilt als wahrscheinlichste Unglücksursache.

Schätze in Deutschlands Archiven

Ein neuer Archivbau wird nach Schätzungen fünf bis sieben Jahre dauern - Schmidt-Czaia fordert hier eine unverzügliche Entscheidung der Stadt noch vor der Kommunalwahl am 30. August: "Es muss hier Vernunft her!" Für die Zeit bis zur Fertigstellung wünscht sich Schmidt-Czaia ein provisorisches Archiv mit Besucherzentrum und Lesesaal in der Innenstadt.

So furchtbar der Einsturz auch war, für die Archivare hat er nach Schmidt-Czaias Erfahrung auch sein Gutes gehabt: "Archivare aus der ganzen Republik schreiben mir, dass sie bei ihrer Verwaltung jetzt ganz anderes Gehör finden." Plötzlich habe die Öffentlichkeit erkannt, welche Schätze in den Archiven schlummerten. "Das hätte man ohne den Einsturz nie gehabt - wobei mir der Preis natürlich zu hoch ist."

Positiv sei vor allem auch die große Hilfsbereitschaft. Mittlerweile haben 1500 Restauratoren, Archivare, Wissenschaftler, Studenten und andere Freiwillige mitgeholfen. Besonders intensiv sei die Zusammenarbeit mit den benachbarten Niederländern und Belgiern: "Die Niederländer haben angeboten, die Hanse-Bestände zu restaurieren."

SPIEGEL WISSEN: HISTORISCHES ARCHIV DER STADT KÖLN
Geschichte
Die Anfänge des Archivs reichen in das frühe 12. Jahrhundert zurück. Die für die Stadt wichtigen Schriftstücke hatten 1322 noch Platz in einer Kiste im Hause eines Patriziers, wuchsen aber zeitgleich mit Kölns Entwicklung zur freien Reichsstadt rasch an. Als der Rat 1406 den Bau des Rathausturms beschloss, gehörte zum Bauprogramm auch ein Archivgewölbe. Damals wurde das erste, noch heute erhaltene Archivinventar angelegt.
Den Zweiten Weltkrieg hatten die ausgelagerten Archivbestände ohne Verluste überstanden. Dagegen sind die damals noch in den städtischen Dienstgebäuden lagernden Akten aus der Zeit der Weimarer Republik seit etwa 1927 und der NS- Zeit während des Krieges weitgehend vernichtet worden.
Das Haus beherbergt zahlreiche Schätze der Kultur-, Kirchen- und Verwaltungsgeschichte. Zum Bestand gehören Herrscherurkunden und zahlreiche kostbare Handschriften. Köln ist nach Angaben von Historikern auch eines der wichtigsten Archive der deutschen Hanse, weil 1593/94 auf Beschluss des Hansetages die Urkunden und Akten des seinerzeit größten Kontors, das in Antwerpen lag, in die sicheren Mauern Kölns gebracht wurden.
dpa
Bestände
Das Archiv umfasst Dokumente aus über tausend Jahren Kölner, rheinischer und preußischer Geschichte. Mit der Ernennung Leonard Ennens zum ersten Kölner Stadtarchivar 1857 wurde der Ausbau des Archivs wesentlich auf den Weg gebracht. Mehr als 65.000 Urkunden aus dem Raum Köln ab dem Jahr 922, 104.000 Karten und Pläne, 50.000 Plakate und rund eine halbe Million Fotos. Zudem sind dort 780 Nachlässe und Sammlungen, unter anderem von Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll gelagert worden.
dpa

amz/dpa

Aus der "Borkener Zeitung"
Christian Wermert: Arbeit unter verschärften Bedingungen

Solidarität unter Archivaren (v. l.): Nottulns Gemeindearchivar Christian Wermert mit seinem Bruder Josef, Stadtarchivar in Olpe, Shirley Sullivan vom australischen Nationalarchiv und Dieter Töps vom Kreisarchiv Olpeg.
Solidarität unter Archivaren (v. l.): Nottulns Gemeindearchivar Christian Wermert mit seinem Bruder Josef, Stadtarchivar in Olpe, Shirley Sullivan vom australischen Nationalarchiv und Dieter Töps vom Kreisarchiv Olpeg.


Nottuln/Köln - „Wenn man so eine Akte zum Beispiel aus dem 12. Jahrhundert in der Hand hält, dann geht einem das Herz auf. Und dann blutet es auch, wenn man sieht, wie viel hier zerstört worden ist.“ Ein Wechselbad der Gefühle durchlebte Christian Wermert in Köln. Dort war der Nottulner Gemeindearchiv für fünf Tage zur Amtshilfe im Stadtarchiv.

Jedenfalls dort, wo das Stadtarchiv mal war. Am 3. März ist das Gebäude in der Severinstraße eingestürzt, es gab zwei Tote - und Tausende von Akten, Urkunden, Büchern und Karten wurden unter den Trümmern begraben. Um zu retten, was noch zu retten ist, sind 1500 Archivare, Restauratoren, Wissenschaftler, Studenten und andere Freiwillige angetreten.


Geborgen wurden bislang 85 Prozent der Akten. Wobei „geborgen“ ein weiter Begriff ist. Wie die Akten und Karten im Einzelnen aussehen, das hat Wermert mit eigenen Augen gesehen, hat es mit eigenen Händen gefühlt. Manches ist wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben, anderes ist nur noch ein großer Haufen Schnipsel - Stoff für ein jahrelanges Puzzle.

Wermerts Arbeitsplatz: eine riesige Möbelhalle in Porz. Abgeschirmt wie ein Hochsicherheitstrakt. Fotografieren ist nur unter Auflagen und in Begleitung möglich. Hier hat das Stadtarchiv eines von zwei Erstversorgungszentren eingerichtet.

Das andere ist direkt an der Einsturzstelle in der Severinstraße. In diesem werden die geborgenen Akten vom ersten Schlamm befreit, zur Not mit einem Gartenschlauch. „Besser, die Akten sind nass, als dass sie verschlammt sind“, sagt Christian Wermert. Lässt man die Akten dann nämlich nicht einfach trocknen, sondern gefriertrocknet sie, kleben die Seiten nicht zusammen, verlieren sie die Tinte nicht.

Die vorsortierten Akten, die nicht zum Gefriertrocknen gehen, nur leicht feucht oder gar trocken geblieben sind, werden zum Erstversorgungszen­trum nach Porz gebracht. Dort waren Christian Wermert und seine Kollegen im Zwei-Schicht-Betrieb tätig. Bei ungewöhnlichen „Klimaverhältnissen“ - 30 Grad Celsius, 30 Grad Luftfeuchtigkeit (das ist im wahrsten Sinne des Wortes „staubtrocken“) stehen die Frauen und Männer an langen Tischen. Eingepackt in weiße Schutzoveralls, Handschuhe an den Fingern, Staubschutzmasken vorm Gesicht. „Das sind verschärfte Arbeitsbedingungen, wir mussten alle zwei Stunden Pause machen, sonst wären wir umgefallen. Und natürlich viel, viel trinken.“

Die 70 bis 80 Helfer einer Schicht entfernen Schuttreste und Sand von den Akten, sichten die Akten, sortieren sie vor, legen Tücher zwischen die Seiten, damit diese beim Trocknen nicht zusammenbacken. Dann kommen sie in große blaue Kisten - „10 000 Stück sind da im Umlauf“, macht Christian Wermert die Dimensionen deutlich. Die Kisten wiederum kommen auf Rollwagen und werden in den Trockenraum gefahren. Dort ist die Luft noch trockener als in der Halle. Ein Dutzend Trocknungsgeräte und laufen rund um die Uhr. „Zwei Stunden bis zwei Tage werden die Akten je nach Zustand getrocknet“, erzählt Wermert.

Dann werden die Tücher aus den Seiten herausgenommen, die Akten noch einmal nachsortiert und auf Euro-Paletten gepackt. Dann sind sie bereit für die Einlagerung. Überall in Deutschland, wo Platz in Archiven ist, werden sie untergebracht. Irgendwann auch restauriert, wenn genügend Geld da ist. Zwei Drittel des Materials, das im Erstversorgungszentrum in Porz stand, waren weg, als Christian Wermert nach Nottuln zurückkehrte. „Bis Ende August werden die wohl noch zu tun haben, bis alles weg ist“, schätzt Wermert.

Von 14 bis 21 Uhr war der 47-Jährige bei der Arbeit. Dann zur Unterkunft in einer ehemaligen Kaserne und schlafen. Aber trotz aller Anstrengung sei das natürlich eine hochinteressante Arbeit gewesen. Nicht nur mit seinem Bruder Josef, der als Stadtarchivar in Olpe tätig ist, sondern auch mit Kollegen aus ganz Deutschland, aus Australien oder aus Tschechien habe er zusammengearbeitet. „Eine unglaubliche Solidarität hat da geherrscht.“

Und dann zeigt der Nottulner ein Foto, auf dem er einen Ledereinband aus einem Pappschuber zieht. „Ein altes Hansebuch aus dem 14. Jahrhundert. Völlig unversehrt. Da muss man sich sehr disziplinieren, dass man nicht liest und liest und liest.“

VON FRANK VOGEL, NOTTULN

Bericht des Mannheimer Morgen vom 7.7.2009

Stadtarchiv: Nach dem Einsturz des größten kommunalen Archivs nördlich der Alpen sortieren und reinigen ehrenamtliche Helfer die Reste der Bestände - es wird Jahre brauchen, bis sie fertig sind

Kölns kulturelles Erbe versinkt im Chaos tausender Kisten

Von unserem Redaktionsmitglied Annika Wind

Vier Monate nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs versucht sich die Stadt, mit Schönrederei zu trösten. Es stimmt, 85 Prozent der Archivalien sind geborgen - aber vieles ist für die Wissenschaft unbrauchbar oder für immer verloren. Ein Besuch im Erstversorgungszentrum in Köln.

Erich Fried verschwindet in einer Kiste. Für einen kurzen Moment purzeln seine Verse der Studentin entgegen. Inga Kienapfel schluckt. Sie hat einen Schatz gefunden. Unveröffentlichte Gedichte des Lyrikers, seine Handschrift und eine Widmung an seinen Verleger. Doch dann klappt sich der Buchdeckel zwischen sie und seine Verse. Sie schaut Erich Fried nur kurz an und schickt ihn dann weiter. Aber wohin? In welche Kiste? In welches Archiv? Einige Zeit später kann sich die 25-Jährige nicht mehr genau erinnern. Sie hat das Buch zwar ordnungsgemäß in eine Liste eingetragen. Aber in welche genau? Fast vier Monate nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs gibt es einfach zu viele davon. Zu viele Listen und Kisten, in die das geistige Erbe einer ganzen Stadt verschwunden ist.

2000 Ehrenamtliche halfen

In einem notdürftig umfunktionierten Lager am Kölner Stadtrand hat man ein sogenanntes Erstversorgungszentrum eingerichtet, in das die Feuerwehr all das Archivgut anliefert, dass sie aus dem zehn Meter tiefen Loch an der Severinsstraße bisher retten konnte: Dokumente aus 1200 Jahren, die ehrenamtliche Helfer aus blauen Plastikkisten auspacken, notdürftig reinigen, in Pappkartons umpacken und dann an Archive in ganz Deutschland weiterschicken.

Seit dem Einsturz am 3. März 2009 halfen bisher 2000 Menschen, das Archivaterial zu sichten und zu säubern - Professoren und ihre Sekretärinnen, Hausfrauen, Studenten, Geschäftsleute und Archivare. Auch Ein-Euro-Jobber hat die Stadt bereitgestellt, jeden Tag finanziert sie drei kostenlose Mahlzeiten. Und wer von weit her anreist, wie etwa Michael Saave aus dem 500 Kilometer entfernten Lörrach, dem wird eine Unterkunft gestellt. "Ich bin Historiker", sagt der 60-jährige Geschichtslehrer, "daher weiß ich, was hier alles verloren gegangen ist."

Noch Ende Mai hatte die Archivleiterin Bettina Schmidt-Czaia davon gesprochen, das "sensationelle 85 Prozent" des Archivguts seit der Einsturzkatastrophe geborgen wurden. Dabei verschwieg sie nicht, dass manches in einem "bedauerlichen Zustand" sei. Aber wie zerstört, durchnässt, verwischt, zerlegt oder zerknittert zum Teil kostbarste Handschriften und Buchmalereien, fragilste Architekturmodelle und Fotos, Noten und Handschriften sind, wurde damals vielleicht der Öffentlichkeit nicht ganz klar.

Wer das Erstversorgungszentrum besucht, der versteht allerdings sehr schnell: Hier wird das Chaos nur verwaltet, aber nicht behoben. 30 Jahre, so schätzt der Archivar Max Plassmann, wird es brauchen, um die auf verschiedene Archive - etwa in Bonn, Essen oder Detmold - verteilten Kölner Dokumente eines Tages wieder zusammenzutragen. Erst dann wird deutlich, was zu retten war oder unwiederbringlich verloren ist. "Schon allein die Restaurierung wird einiges Geld verschlingen", sagt Plassmann. Die Historiker hoffen daher, dass Dokumente auch von anderen Archiven restauriert werden - möglichst auch auf deren Kosten.

Vor vier Monaten noch war Max Plassmann ein ganz normaler Archivar, jetzt ist er zum Generalisten geworden: Als Pressesprecher und Ansprechpartner für ehrenamtliche Helfer versucht er, den Überblick im Erstversorgungszentrum zu behalten. Fragen zu beantworten. Die nächste Schicht zu koordinieren.

Als ein Bus, der Ehrenamtliche zurück in die Stadt bringen soll, liegenbleibt, ist er der Erste, der telefoniert und koordiniert. Vor dem Einsturz war Plassmann auf Dokumente bis 1815 spezialisiert. Jetzt hält man ihm alles Mögliche vor die Nase - die Tageszeitung "taz" etwa, die drei Tage vor dem Einsturz am 3. März 2009 erschien und mit mittelalterlichen Urkunden und wertlosen Werbebroschüren aus den Kisten gezogen wird.

Immer wieder sieht Max Plassmann unbezahlbare Kostbarkeiten in einem furchtbaren Zustand: etwa aufwendig gearbeitete, mittelalterliche Schreinsbücher. Sie sind eigentlich das Gedächtnis der Stadt Köln, die früher als alle anderen Kommunen damit begonnen hatte, Bürgerrechte und -streitigkeiten zu dokumentieren - aber auch Besitzverhältnisse, die nicht selten bis in die heutige Zeit gültig sind. Geduldig erklärt Plassmann, in welchem Zustand das Archivgut ist und wie es in diesem provisorisch hergerichteten Lagerhaus sortiert, gegen Schimmel gefriergetrocknet oder mit heißer Luft beblasen wird. Für die Journalisten sichtet er dann das Chaos aus einer Kiste, exemplarisch, denn Zeit für eine Bestandsaufnahme bleibt nicht: "Das hier könnte ein Einbürgerungsbescheid von 1975 sein", sagt er und zeigt auf ein Dokument. "Und das hier ist das Ein- und Ausgabenbuch des Kölner Zucht- und Arbeitshauses von 1781."

Daneben grüßt Willy Millowitsch vor dem Kölner Dom von einer Fototapete herab. Dabei grinst der König des Kölschen Humors so unverschämt aufmunternd, als würde er dem deprimierten Archivar zurufen: "Ät hät och schlimmer kumme könne", es hätte auch schlimmer kommen können, nimm's nicht so schwer! Max Plassmann runzelt die Stirn, als man ihn danach fragt, wie schlimm er den Einsturz findet.

Es stimmt, es hätte noch schlimmer kommen können. Aber wie schlimm eigentlich? Da lässt eine Stadt eine U-Bahn bauen, die direkt unter dem Stadtarchiv verläuft, und am Ende ist sich niemand sicher, wieso das durch seine Dokumentenbestände außergewöhnlich schwere Gebäude einstürzte? Noch immer steht die genaue Ursache des Unglücks nicht fest. Und kaum sackt 200 Meter neben der Unglücksstelle ein weiterer Teil des Bodens ein, so wie zuletzt noch vor zwei Wochen, hat das alles nichts mit dem Tunnel zu tun, der sich weiter durch die Stadt frisst?

Während man an der Kölner Stadtspitze schnell wieder bei der Tagesordnung ist, versuchen Plassmann und seine Kollegen mit den Erlebnissen des 3. März fertig zu werden. "Ich habe in meinem Büro Verwaltungsakten des 16. bis 18. Jahrhunderts gesichtet", erinnert sich der Archivar.

Es ging um die Stadt Köln, die sich mit der Stadt Hürth um ein Stück Fluss stritt. Die Wasserversorgung zwischen den Kommunen war seit Jahrhunderten schwierig - da knirschte das Mauerwerk über ihn und er rannte aus dem Büro. Getrieben von einem Fluchtinstinkt, der ihn heute noch überrascht. "Man weiß ja nicht, dass das Haus über einem zusammenfällt", erinnert sich der 38-Jährige. "Aber man spürt, dass man rennen muss."

Auch seine Chefin, Bettina Schmidt-Czaia, lässt das Trauma dieses Tages nicht los. Provisorisch ist der Sitz des Archivs nun im Stadthaus in Deutz untergebracht. Doch die Archivleiterin will hier nicht bleiben. Sie will ein neues Archiv. Und Geld für das, was von ihm übrigblieb. Indes schiebt der Kölner Stadtrat kulturpolitische Entscheidungen erst einmal in den Herbst: Überraschend hatte die Stadtverwaltung in der letzten Woche ihre Vorlage zu einem Archiv-Neubau zurückgezogen. Erst im September will der Rat über die Zukunft des Archivs entscheiden - und nach der Kommunalwahl darüber abstimmen.

Nicht alles ist bisher geborgen

In ihrem provisorischen Dienstzimmer hat Bettina Schmidt-Czaia das Schild der Severinsstraße aufgestellt, in dem ihr Archiv einst stand. Feuerwehrleute hatten es ihr geschenkt. "Für mich steht fest, dass wir schnell wieder ins Stadtzentrum zurückkehren wollen", sagt sie entschlossen. Mehrere Standorte für einen Neubau seien inzwischen im Gespräch. Am liebsten wäre ihr das Gereonskloster, in dessen Umfeld das Archiv bereits vor dem Zweiten Weltkrieg saß. "Aber das würde eine besondere Investition erfordern".

Investieren möchte Oberbürgermeister Fritz Schramma aber vielleicht nicht so viel, wie gefordert - darum gibt es derzeit in der Stadt Streit: 15 Prozent der Archivmaterialien liegen noch immer im "Loch", das von der Feuerwehr provisorisch mit Sand geschlossen wurde. "Alles, was da unten liegt, schwimmt im Wasser", erklärt Feuerwehrsprecher Daniel Leupold.

"Wat fott es, es fott", würde jetzt wieder ein Kölsches Sprichwort passen - was weg ist, ist weg. Aber damit will sich Bettina Schmidt-Czaia nicht abfinden. "Wir kämpfen um jedes Stück, selbst Dokumente, die im Nassen liegen, sind nicht verloren." Der Oberbürgermeister ließ indes über die Presse verkünden, dass die Bergung der restlichen Archivalien "Abwägungssache" sei. Darüber kann der Feuerwehrsprecher nur die Stirn runzeln. "Wer an dieser Stelle jemals wieder etwas bauen will, der muss den Bereich ausschachten und alles darunter Liegende bergen", sagt Leupold. Es sei denn, er will, dass alles wieder zusammenfällt.

Mannheimer Morgen
07. Juli 2009