Kölner Stadtanzeiger , 10.3.2009, www.ksta.de
Interview
„Archiv war unser Leben“
Erstmals gibt die Archivdirektorin Bettina Schmidt-Czaia im Interview Auskunft über den schwärzesten Tag in der Geschichte des Kölner Stadtarchivs. Sie hat schon früher über eine Evakuierung des Archivs nachgedacht. Doch dafür hätte sie wohl keine Unterstützung bekommen.
Köln - KÖLNER STADT-ANZEIGER: Frau Schmidt-Czaia, wie war das vor einer Woche, als das Archiv zusammenbrach?BETTINA SCHMIDT-CZAIA: An dem Morgen hatte ich mir einen Frühlingsstrauß gekauft. Ich dachte mir: Eigentlich hast du jetzt technisch alles auf einem guten Weg. In den dreieeinhalb Jahren, in denen ich hier war, habe ich 18 Einstellungen vorgenommen - und ich habe sehr gute und sehr motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Da wollte ich mir was Gutes gönnen. Auch wollte ich die Kulturausschusssitzung vorbereiten, in der es um das Expertenhearing zur Zukunft des Historischen Archivs gehen sollte. Dieses Hearing war ja sehr gut gelaufen. Und von 13 bis 14 Uhr hatte ich dann einen Termin mit einem ehemaligen Mitarbeiter des Archivs, der heute Professor in Bonn ist - ja, und dann krachte es auf einmal.
Beschreiben Sie das doch, bitte.SCHMIDT-CZAIA: Das Knirschen und Knacken im Gebäudetrakt habe ich selbst gar nicht gehört. Ich bekam nur mit, dass wieder Arbeiter auf dem Dach rumliefen - das Dach ist in den letzten dreieinhalb Jahren ungefähr pro Woche einmal repariert worden. Wir befürchteten immer, dass dort durch die Lötarbeiten ein Brand entstehen könnte. Plötzlich merkte ich, dass in dem Gebäudeteil, der an der Straße lag, Unruhe entstand. Da sagte ich zu meinem Gast: Was ist denn da los, lassen Sie mich mal eben gucken gehen. In dem Moment steht der Haustechniker an meiner Türe und sagt: „Raus! Wir müssen hinten raus - irgendetwas stimmt mit dem Haus nicht.“
Dann liefen Sie los.SCHMIDT-CZAIA: Ich lief hinaus, aber sah dann auf einmal meinen Gast nicht mehr. Ich bin noch mal zurück in den Lesesaal, wo der nicht mehr war, und rief dann nur noch „Raus, raus, raus!“ Dann bin ich gelaufen und gelaufen. Zwei Kollegen habe ich gesehen. Dann war ich draußen. Ich habe erst einmal nur geschrien. Ich drehte mich um und sah, wie das Haus umkippte. Ich konnte nur die obere Zeile des Hauses sehen, denn davor war unser Verwaltungsgebäude. In dem Moment kommt der Haustechniker aus dem Haus, fällt mir in die Arme und bekommt einen Heulkrampf.
Dann sind Sie weg vom Gebäude?SCHMIDT-CZAIA: Wir sind dann weitergegangen. Auf einmal waren so viele Menschen auf der Straße, dass ich meine Leute verloren habe. Zwei Frauen sprachen mich an und sagten: „Sie sehen ja ganz weiß aus - Sie müssen etwas trinken!“ Ich dachte aber nur: Sind die alle rausgekommen, was ist mit meinem Besucher? Dann wollte ich meinen Mann anrufen, konnte aber das Handy gar nicht bedienen. Wir gingen ins Hotel Mercure, wo eine Liste geführt wurde: Wer war im Gebäude? Da hat's mich nicht gehalten. In meiner Verzweiflung habe ich dann die Nummer des Kulturdezernenten nicht mehr gefunden. Ich rief eine Nummer an, die aber nicht korrekt war, aber es war eine städtische Nummer. Der Mann wollte mir erst gar nicht glauben und fragte: Wer sind Sie denn? Den habe ich dann aufgefordert, sofort alle zu informieren - der Dezernent war dann auch schon etwa zehn, fünfzehn Minuten später an der Unglücksstelle.
Der Schock wirkt fort?SCHMIDT-CZAIA: Bis sich das alles gesetzt hat, wird es lange dauern. Aber der erste Schock ist vorbei: Dass man denkt, die Welt ist zu Ende. Irgendwann setzen die Überlebensinstinkte wieder ein.
Wie geht es Ihren Mitarbeitern?SCHMIDT-CZAIA: Schlecht! Die sind jetzt seit über einer Woche fast ununterbrochen im Einsatz. Einige sind so stark mitgenommen, dass sie nicht mehr zum Dienst erschienen sind. Dieses Archiv war unser Leben. Wir haben alle so sehr darum gekämpft - wir wollten das Haus und die Bestände retten.
Kennen Sie einen vergleichbaren Schadensfall?SCHMIDT-CZAIA: Nein. Katastrophen im Archivwesen sind meistens Hochwasserschäden. Aber so etwas - nein.
Steht mittlerweile das Dach über der Unglücksstelle?SCHMIDT-CZAIA: Noch immer nicht. Das Erdreich ist so labil, dass man kaum einen Platz für die Stützen findet. Es hat sich ja alles gegen uns verschworen. Es regnet fast täglich. Da hilft die Plane nur bedingt, denn das Wasser findet seinen Weg.
Haben Sie selbst mit dem Schlimmsten gerechnet?SCHMIDTZ-CZAIA: Wir im Archiv schon. Aber nicht die ganze Stadtverwaltung.
Haben Sie auch den Einsturz des Hauses für möglich gehalten?SCHMIDT-CZAIA: Ich habe immer wieder gesagt, dass wir glücklich sein können, wenn es uns gelingt, das Archiv gut da rauszukriegen. Das Gebäude war schon, als ich kam, total marode. Kein Anstrich, keine Dichtung, keine Leitung war da erneuert worden. Der Filmraum durfte nicht mehr benutzt werden, weil die Klimaanlage defekt war. Ich habe dann eine Grundsanierung im Bereich der Lesesäle und Büros durchgesetzt. Die Schäden haben wir alle dokumentiert und den Vermieter - die Gebäudewirtschaft - darüber informiert.
Gab es schon einmal eine Evakuierung?SCHMIDT-CZAIA: Ja - vor zwei Jahren beim Schildvortrieb für die U-Bahn. Die Dichtungen der CO2-Löschanlage hatten sich offenbar durch die Erschütterungen gelockert. Jedenfalls entwich unkontrolliert CO2. Auch damals hat das der Haustechniker bemerkt und hat uns gewarnt. Dann wurde das Gebäude geräumt. Daraufhin wurde die Löschanlage ausgeschaltet und der Vortrieb unter Einsatz von Feuerwachen weitergeführt.
Haben Sie je überlegt, angesichts der Risse - die möglicherweise nichts mit dem Einsturz zu tun haben - die Archivalien zu evakuieren?SCHMIDT-CZAIA: Ja. Das Problem ist allerdings: Wo fängt man da an? Das Publikum und dessen Interessen sind äußerst vielfältig. Dann hätte man sagen müssen: Wir schließen das Archiv und lagern es aus. Dafür hätte ich aber keine Unterstützung bekommen.
Wieso nicht?SCHMIDZ-CZAIA: Es gab ja das Gutachten aus dem Dezember 2008, das dann Anfang des Jahres vorlag. Das war dieselbe Firma, die auch schon vor dem U-Bahn-Bau die Statik untersucht hatte. Das fand ich nicht so gut. Dem Gutachten zufolge gab es keine gravierenden statischen Mängel. Da waren wir beruhigt. Wenn jemand, der von Statik Ahnung hat, uns so etwas sagt, dann müssen wir das glauben.
Haben Sie einen groben Überblick über die Schäden?SCHMIDT-CZAIA: Nein. Um verstehen zu können, wovon die Rede ist, muss man sich die Halle ansehen, wo das Material sortiert wird. Es ist schmutzig, kalt und feucht - es ist die Hölle. Diese Halle wollen wir sobald wie möglich wechseln. Es ist zum Verzweifeln, was man da zu sehen bekommt - Teile der Nachlässe von Schneider-Wessling, von Wellershoff. . . . Da wird einem anders. Wir haben ja nur das Beste vom Besten aufbewahrt - was man braucht, um die Kulturgeschichte der Stadt nachvollziehen zu können.
Die Film-Kopien, die im Schwarzwald lagern, sind kein Ersatz?SCHMIDT-CZAIA: Nein. Man hat sich da ja auch zunächst nur um die Altbestände gekümmert. Das war so ein Archivar-Spruch: Alles, was nach 1500 kommt, ist Journalismus. Wir haben aber gerade auch seit den 80er Jahren viele wichtige Nachlässe gewonnen. Die sind nicht verfilmt.
Melden sich die betroffenen Familien oder Leihgeber bei Ihnen?SCHMIDT-CZAIA: Nein, noch nicht.
Die wähnten ihre Schätze in diesem Haus am sichersten.SCHMIDT-CZAIA: Das ist ja die erste Aufgabe - das Bewahren. Als ich hierher kam, habe ich betont, dass ich mich im Wesentlichen als Kulturgutschützerin verstehe.
Wie geht es weiter?SCHMIDT-CZAIA: Wir sind in der Phase der Bergung. Von der Feuerwehr hieß es heute, sie werde dafür ein Jahr brauchen. Also - wenn das so lange dauert, wird nicht mehr viel vorhanden sein. Wir wollen unser Bestes geben und aus diesem Grab unserer Kultur retten, was rettbar ist. Aber es wird nie mehr das alte Archiv sein.
Das Gespräch führten Christian Hümmeler und Martin Oehlen