Mittwoch, 11. März 2009

Wie das Schlimmste verhindert wurde!

Historisches Stadtarchiv Köln
Wenige Minuten nach dem Einsturz des Historischen Stadtarchivs: Völlig fassungslos stehen die Bauarbeiter an der Einsturzstelle. (Bild: Schwarz)

Aus dem Kölner Stadt Anzeiger vom 10.3.2009
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„Raus hier! Alle raus!“

Von Matthias Pesch und Tim Stinauer, 10.03.09, 21:22h, aktualisiert 10.03.09, 21:47h

Arbeiter von der Unglücks-Baustelle am Kölner Stadtarchiv berichten zum ersten Mal von den Minuten des Einsturzes – und wie sie vielen Menschen das Leben retteten. Baggerführer Manfred L. hatte die Archiv-Mitarbeiter gewarnt. Er fühlt sich dennoch nicht als Held.

DILLENBURG - Manfred L. steht vor seinem Haus im hessischen Burg, das schwarze Baumwollhemd über der Jeans. Drinnen wartet seine Familie, es gibt gleich Mittagessen. Der 43-Jährige hat Urlaub, Sonderurlaub. Sein Chef hat ihm eine Woche freigegeben, damit er sich von den schrecklichen Eindrücken in der Kölner Innenstadt erholen kann. „Ohne Manfred würden wir jetzt nicht von einem oder zwei Toten sprechen, sondern von 60 oder 70“, sagt L.'s Kollege Lutz G. (Namen aller Bauarbeiter geändert). Beide arbeiten für das traditionsreiche Bauunternehmen Lauber in Dillenburg. Aber Manfred L. winkt ab: „Wir sind keine Helden.“ Beide möchten ihre Namen nicht genannt wissen, wollen auch nicht, dass man sie fotografiert. Aber sie erzählen.

Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ äußern sich zum ersten Mal Arbeiter, die zum Unglückszeitpunkt an der Baustelle waren und deren schnelle Reaktion vermutlich vielen Menschen das Leben rettete. Die Männer schildern die Minuten vor dem Einsturz des Historischen Stadtarchivs.

Dienstag, 3. März, 13.45 Uhr: Im U-Bahn-Schacht sind die acht Arbeiter, vier von der Firma Lauber, fast fertig mit dem Ausbaggern des Erdreichs, als sie plötzlich nasse Füße bekommen. Schlamm, Kies und jede Menge Wasser schießen durch eine Betonschlitzwand in die gigantische Grube. „Der Druck war ungeheuer groß“, berichtet Lutz G. Die Männer wissen nicht genau, was das zu bedeuten hat, aber sie ahnen, dass gleich etwas Schlimmes geschehen wird. „Es war jedenfalls sofort klar, dass irgendetwas nicht stimmt“, erinnert sich G. „Raus! Raus hier! Alle raus!“, brüllt der Polier. Die Arbeiter rennen zur Treppe.

Gegen die Scheiben getrommelt

28 Meter über ihnen sitzt Manfred L. in seinem Seilbagger. Er zieht die Kiesladungen nach oben und kippt sie auf einen Lastwagen. „Plötzlich lief ein Mann ganz aufgeregt an mir vorbei“, schildert der 43-Jährige. Er springt aus seinem Führerhaus und schaut in die Baugrube. Er sieht, wie seine Kollegen ihm entgegen klettern, hört die „Raus! Raus!“-Rufe seines Poliers. Der Bürgersteig sackt weg, Gebäudeteile bröckeln von der Fassade des Stadtarchivs. Manfred L. reagiert sofort. Er rennt zum Archivhaus, donnert mit den Fäusten gegen die Scheibe, fordert die Besuchern des Lesesaals mit Handzeichen und Rufen auf, sich sofort in Sicherheit zu bringen. „Anfangs dachte ich, da bröckelt nur etwas Putz vom Haus“, erzählt Manfred L. Dass das gesamte Gebäude einstürzen würde, habe er sich nicht vorstellen können. „Aber dann ging alles ganz schnell. Das Ganze hat vielleicht eine Minute gedauert.“

Auch der Lastwagenfahrer reagiert blitzschnell. Er läuft auf die Severinstraße und hält einen voll besetzten Bus auf, in dem viele Schüler der benachbarten Gymnasien sitzen. Im nächsten Moment sackt das Archiv in sich zusammen und stürzt auf die Straße, Trümmer schlagen wenige Meter vor dem Bus auf, der Lastwagen stürzt zwölf Meter tief in den Krater und ist bis heute nicht geborgen. Ein Auto der Rhein-Energie habe den Bus noch überholen wollen, berichtet Lutz G. „Der Autofahrer hatte sich wohl gewundert, warum der Bus nicht weiterfuhr.“ Dann krachten Betonteile auf die Fahrbahn, trafen auch das Auto, doch der Fahrer habe sich unverletzt retten können, sagt G.

Anruf bei der Familie

Unterdessen hat sich Manfred L. vor dem Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Sicherheit gebracht. Er ruft seine Familie an. Damit sie weiß, dass es ihm gut geht, bevor sie die Katastrophenbilder im Fernsehen sieht. Doch L. fährt nicht gleich nach Hause, er bleibt an der Unglücksstelle und hilft. Den ganzen Abend weist er die Fahrzeuge ein, die den Beton anliefern, mit dem die einsturzgefährdete Grube stabilisiert werden soll. Mit seinen Kollegen übernachtet er noch in Köln, am nächsten Mittag kehrt er zurück nach Burg.

Dort, vor seinem Haus, zieht Manfred L. eine Woche später seine persönliche Bilanz. Er weiß, wie knapp er in der Severinstraße dem Tod entkommen ist. Und seine Kollegen wissen das auch. „Wir wollen uns künftig jedes Jahr am 3. März treffen und unseren zweiten Geburtstag feiern“, sagt L. und lächelt. Dann wird er wieder ernst. „Es hat ja vermutlich zwei Tote gegeben. Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können.“ Dass mit den Beständen des Stadtarchivs wertvollstes Kulturgut zerstört wurde, interessiert ihn nicht. „Das ist mir ziemlich egal.“

Der 43-Jährige macht nicht den Eindruck, als habe ihn das Unglück aus der Bahn geworfen. Er wirkt gefasst, und er will möglichst schnell wieder arbeiten. Am liebsten in der Nähe seiner Familie, notfalls aber auch wieder in Köln. Für nächsten Montag hat er sich bei seinem Chef wieder zurückgemeldet.

Auf das Firmengelände zog es ihn allerdings am Dienstag schon. Dort wurde am Vormittag sein zerstörter Seilbagger auf einem Tieflader angeliefert. Das tonnenschwere Gerät steht auf dem weitläufigen Hof im Gewerbegebiet, völlig zerquetscht von den Trümmern des Stadtarchivs. Es wirkt wie ein Mahnmal, eine makabre Erinnerung an das Unglück. „Ich wollte sehen, ob meine Tasche noch drin ist“, erzählt der 43-Jährige, der seit 25 Jahren bei Lauber arbeitet. Aber er findet nur noch seine neongelbe Arbeitsjacke. Er hat sie liegengelassen.

In Köln werden die hessischen Bauarbeiter von einigen als Helden gefeiert. Die Schüler des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums haben einen Brief an KVB-Chef Jürgen Fenske geschrieben, weil sie sich persönlich bei den Bauarbeitern bedanken wollen. Auch im 25 000-Einwohner-rt Dillenburg ist der mutige Einsatz der Männer Gesprächsthema. Egal, welche Gaststätte man aufsucht: In Dillenburg und Umgebung trifft man viele, die schon für Lauber gearbeitet haben. Zum Beispiel Franz Weiser (75). 27 Jahre war er in der Firma, lange Zeit als Polier. Seine Schwiegertochter führt das Café Conrad in der Nähe des Dillenburger Rathauses. „Viele haben mich gefragt, ob ich die Bauarbeiter kenne“, erzählt Weiser. „Von den älteren kenne ich noch ein paar, die jungen aber gar nicht mehr.“

Dank von der KVB

Auch Michael Lotz, Bürgermeister von Dillenburg, ist voll des Lobes. „Es ist toll, wenn man Leute hat, die bereit sind, in solchen Situationen Verantwortung zu übernehmen“, sagt das Stadtoberhaupt. Er wolle den Mitarbeitern von Lauber ein Anerkennungsschreiben schicken. Möglicherweise werde es auch einen Empfang im Rathaus geben. Als er von dem Unglück hörte, habe er zuerst gehofft, dass kein Arbeiter aus seinem Ort beteiligt sei, jetzt ist er froh, dass es doch so ist - „aber unter positiven Vorzeichen“.

„Die Arbeiter haben verhindert, dass es eine riesige Katastrophe wurde“, sagt KVB-Chef Fenske. „Meinen herzlichen Dank dafür.“ Auch Christoph Lauber, dessen Firma alle sieben U-Bahn-Haltestellen der Neubaustrecke in Köln ausgebaggert hat, ist stolz auf seine Angestellten. „Sie haben intuitiv richtig gehandelt“, sagt der Unternehmer. „Die beiden haben mehr als super reagiert“, ergänzt ein Vorgesetzter. „Sie hätten ja auch weglaufen k

Chronik der Katastrophe - Tag 9