Meine beste Nacht – die letzte in Schweden. Die Sonne steht über dem Wasser. Ich habe gepackt. Der Tag wird gut. Auf der Veranda trinke ich noch einen Kaffee, dann schwinge ich mich ungewohnt früh in den Sattel. Mit dem Grenzübergang nach Finnland ändert sich vieles.
Zunächst die Qualität der Straßen (schlecht), die Zeit, eine Stunde mehr und die schöne schwedische Aufgeräumtheit ist weg, fast als könne man zusehen, wie der finnische Regisseur Kaurismäki das Zepter in die Hand nimmt und Melancholie, Stille, Weite walten lässt. Die Straße bis zum nächsten Ort, nach und nach besser werdend, zieht sich über 80 Kilometer hin, mit wenig veränderten Ausblicken. Aber die Sonne scheint und ich genieße das Dahingleiten.
Unser portugiesischer Pedaleur Felipe steht ratlos am Straßenrand, weil er für seine schlauchlosen Reifen keine „Würmchen“ besitzt – flexible Füllstücke, die man in Reifenlöcher steckt, um die sich im Inneren befindliche Dichtmilch am Austreten zu hindern. Wie soll es mit einem defekten Reifen die nächsten 60 Kilometer weitergehen? Ich habe die Idee, mein schon in anderen Bereichen bewährtes Aloe-Vera-Feuchttuch anzubieten. Und tatsächlich dichtet es den Reifen erfolgreich ab. Später sehe ich den Tracker, wie er gut unterwegs ist. Mit einer guten Tat im Rücken gehe ich den Sonntag an.
Wie schon gesagt: Meistens werde ich überholt, aber nach zwei Stunden überhole ich die Überholenden bei ihrer ausgiebigen Pause. So geht es hin und her, bis wir uns alle beim ersten finnischen Supermarkt treffen. Er könnte wieder die perfekte Szenerie für einen dieser melancholischen Filme sein. Schnell versorge ich mich und probiere nun die landesübliche Brause. Für die Weiterfahrt schmeckt alles andere wie gehabt.
Mein Weg führt mich in die nördlichste Stadt Finnlands, Rovaniemi. Nichts, was für den schnell Durchreisenden in Erinnerung bleibt – eher sozialistische Tristesse. Aber das eigentliche Ziel ist der Checkpoint im Santa Claus Village, einer absurden Ansammlung von Weihnachtskitsch und der erfundenen Legende, dass Santa Claus hier genau auf dem Polarkreis zu Hause ist. Dieses Dorf ist gleichwohl Anziehungspunkt für viele Menschen – deutsche Nordlandtouren, wie sie üblicherweise in TV-Zeitschriften angeboten werden, oder große Gruppen aus dem asiatischen Raum. Auch ich dränge mich in den Besucherpavillon, um meinen Stempel abzuholen – von einer etwas überdrehten Finnin mit roter Zipfelmütze, die es gut mit mir meint, aber nie eine Chance hätte, im echten finnischen Film zu landen.
Ich biege auf die Straße, die mich ganz direkt Richtung Norden bringt. Das ist die einzige durch eine Seen-, Kiefern- und Birkenlandschaft. Einen Radweg gibt es nicht, die Straße ist ausreichend breit, aber es fühlt sich nicht schön an, wenn Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit an mir vorbeibrausen. Zwischendurch gibt es einmal den größten Radweg der Welt – ich vermute aber eher, dass man hier für den Fall der Fälle einfach mal als Lande- und Startbahn hinein asphaltiert hat.
Nach 70 km bin ich ermüdet, und eine Tankstelle mit angeschlossenem Lebensmittelhandel und Restaurant lockt zur Einkehr.
Hier wiederum hätte unser großer finnischer Regisseur viel Freude. Er müsste, glaube ich, nichts verändern, auch nicht die Wirtleute, die schon alles gesehen zu haben scheinen und hier ihr stilles Glück gefunden haben. Natürlich kann man den angelehnten Fahrrädern draußen vor der Tür ansehen, dass der Speisesaal gut mit den Unsrigen gefüllt ist.
Gestärkt gehe ich die letzten 70 km hoch und runter, mit Brausen im Verkehr. Doch selbst der scheint die guten Rentiere nicht zu schrecken, die sich mit ihren immer treuherzigen Augen quer zur Fahrbahn stellen, sich nur langsam zur Seite bewegen und wenig Anschein von Scheu zeigen.
Am Ende des Tages bleibt das Gefühl, dass ich es mit einem handelsüblichen Fahrrad geschafft habe, auch den Polarkreis zu erreichen und auf diesem zu stehen. Es ist ja wirklich ein weiter Weg bis hierhin von Berlin. Das macht mir Mut auf die jetzt letzten 550 km.